Tanz und Teppich
Noa Eshkol, Wall Carpets, 20.11. - 23.03.2014, Kunst- und Kulturstiftung Opelvillen, Rüsselsheim
Die Israelin Noa Eshkol lebte von 1924 bis 2007. Als Tänzerin und Choreographin setzte sie sich in den 1950er Jahren mit der internationalen Tanzentwicklung auseinander und begründete eine Tanztheorie. Sie war in der Tanzszene international bekannt, aber kein Massenstar. Eshkols Wandteppichproduktion blieb von der Kunstszene so gut wie unbeachtet. Was fasziniert heute an der künstlerischen Persönlichkeit Eshkols? Noa Eshkol, deren Arbeiten gerade in einer Ausstellung in Rüsselsheim gezeigt werden, verfolgte als Tänzerin und Choreographin einen anderen künstlerischen Weg als mit ihren Wandteppichen. Eshkols Kunstformen "Tanz" und "Teppich" ergänzen sich wie zwei Seiten einer Münze. Dank des Revivals der Klassischen Moderne samt "Gesamtkunstwerk" wirkt die Kombination von Tanz und Wandobjekt zeitgemäß und interessant.
Foto von Kirsten Kötter, Blick in die Ausstellung
Und aktuell an den Wandteppichen ist auch Eshkols Ansatz einer
Malerei ohne Malerei. Dasselbe Konzept verfolgte die Berliner Kunstmesse
ABC 2011 mit ihrem Motto "About Painting". Wie Eshkol unterlaufen
zeitgenössische Künstler gerade die Grenzen zwischen "Hoher Kunst" und
Kunsthandwerk bzw. Design. Textile Kunst hat neue Beachtung gefunden,
z.B. mit der Ausstellung "Kunst & Textil" des Kunstmuseums
Wolfsburg, in der auch Eshkol mit zwei Wandteppichen vertreten war.
Vielleicht fasziniert bei Noa Eshkols auch die Verschmelzung von Kunst
und Alltag: Eshkol lebte seit 1951 nach dem Tod der Mutter in deren Haus
in Holon bei Tel Aviv. Hier studierte sie mit ihrer 1954 gegründeten
Tanzgruppe die Tänze ein. Hier entstanden seit 1973 die Wandbehänge. Das
Haus ist Atelier und Tanzstudio.
Noa Eshkol arbeitete nicht nur
beim Tanz als Leiterin einer Gemeinschaft. Auch die Wandteppiche
entstanden in ähnlicher Zusammenarbeit: Eshkol hat die Wandbehänge
entworfen, die Stoffstücke ausgelegt, kombiniert und zusammengesteckt,
genäht wurden sie aber mit Hilfe der Tänzerinnen aus Eshkols Tanzgruppe,
sozusagen im Kollektiv. Patchwork braucht viele geduldige Nadelstiche.
Individualität und Kollektivität treffen noch einmal in den Wandbehängen
aufeinander: Die Bildmotive stammen aus Eshkols privatem Leben: z.B.
der Wandteppich "Tante Leahs Baum". Aber die Stoffe sind kollektives
Gut. Dank internationaler israelischer Produktion waren sie sogar in
Deutschland verbreitet. Deutsche Besucher können Stoffmuster aus ihrer
Vergangenheit in den Wandbehängen wiederentdecken.
Tanz
betrachtete Noa Eshkol von der Wurzel her: Wie kann der menschliche
Körper eine Bewegung ausführen? Eshkol entwickelte ihre Tanzbewegungen
aus den Drehbewegungen der Gelenke, die eine Bewegung der Glieder im
Raum zur Folge haben. Sie baute kinetische "Sphärenmodelle" zur
Veranschaulichung ihrer Bewegungstheorie und schuf gemeinsam mit Avraham
Wachmann eine Notation der Tanzbewegungen, die Eshkol-Wachmann Movement
Notation. Eshkol verzichtete bei Tanzaufführungen auf Kostüm,
Bühnenbild und Musik. Weder verstand sie Tanz als Mittel emotionalen
Ausdrucks, noch will sie in den Tänzen eine Geschichte erzählen.
Abstraktion, Analyse und Reduktion sind ihre Leitmotive. Eshkol gibt
ihren Tänzen allerdings bildhafte Titel wie "Promenade", "Peacock" oder
"Doors", die an die Titel der Wandbehänge erinnern, die "Platanen",
"Kirschblüte" und "Vögel in der Wüste" heißen. In den Tänzen wie in den
Wandbehängen kombiniert sie Einzelnes durch Aneinanderreihung und
Wiederholung zum Ganzen. Letztlich war der Unterschied zwischen "Tanz"
und "Teppich" vielleicht weniger signifikant als er sich zunächst
darstellt.
Der erste Wandbehang Eshkols entstand in einer mit
Gefühlen von Trauer und Angst aufgeladenen Situation. 1973, beim
Jom-Kippur-Krieg, fertigte Eshkol ihren ersten Wandteppich aus ihren
eigenen alten Kleidern und Stoffresten, die zur Hand waren. Weil der
einzige männliche Tänzer ihres im Hause trainierenden Ensembles zum
Kriegsdienst eingezogen war, beschloss Noa Eshkol das Tanzen
vorübergehend einzustellen. Aber auch nach Wiederaufnahme der Arbeit mit
ihrer Tanzgruppe hörte Eshkol nicht auf, die Wandteppiche zu gestalten.
Wurden die Wandbehänge für Noa Eshkol zu einem Gegenüber, zu einem
visuellen Tagebuch? Denn diese entstanden nun, wenn Noa Eshkol über das
Wochenende allein zu Hause war. Die Stoffe wurden auf den Böden
ausgebreitet, auf denen sonst getanzt oder gelebt wurde. Eshkol hatte
sich selber auferlegt, niemals die Schere zu benutzen und nur
vorgefundene Stoffstücke zu verarbeiten. Stoffreste wurden ihr aus dem
ganzen Land zugeschickt oder von Eshkols Tanzgruppe aus den
Abfallcontainern einer Stofffabrik geholt.
Die vorgegebene Form
der meist gemusterten Stoffe inspirierte Noa Eshkol zu klassischen
Bildthemen wie "Vase vor Fenster", "Fenster zum Meer", Sonnenuntergängen
und Pflanzenmotiven. Manche ihrer Bildthemen sind spitzfindig und
verblüffend aus den vorgegebenen Stoffresten entwickelt. Wie eine
Malerin nutzt sie verschwommene und unscharfe Färbungen für Hintergründe
und Himmel (gebatikter Stoff in "Vögel in der Wüste"). Gemusterte
Stoffe werden so ausgewählt, dass sie das Bildmotiv darstellen: Bei
"Strauch bei Nacht" nutzt Eshkol die gestreiften Stoffe für die
Darstellung der harten Äste und Zweige und die kleingeblümten für Blüten
im Hintergrund des Gartens. Die Formen, Farben und Muster der
Stoffstücke führen aber weiter ihr Eigenleben in den Wandbehängen. So
sind zwei Blicke auf die Wandbehänge möglich: Der Blick von Weitem auf
das Ganze und der Blick von Nahem auf die einzelnen Stoffstücke. Diese
beiden Lesemöglichkeiten der Wandbehänge laufen in unterschiedliche
Richtungen. Die beiden Sichtweisen unterstützen sich nicht, sondern
führen einen unmerklichen Streit um die Aufmerksamkeit des Betrachters.
Hier werden wir an grundlegende Themen der modernen Malerei erinnert:
der Streit zwischen Textur der Pinselstriche und dargestelltem
Bildmotiv.
Ein Stilelement der zeitgenössischen Malerei seit
Beginn der Moderne ist das Ausloten der Grenze zwischen Abstraktion und
naturalistischer Darstellung. Dies geschah einmal durch Reduktion der
Formen und Farben auf das Wesentliche. Dies geschah auch durch
Einbeziehen der Textur der Pinselstriche, die die Formen und Farben
bildeten. Mit ihrer Struktur bilden sie eine zweite visuelle Erzählung,
die das Verständnis der ersten visuellen Erzählung - das dargestellte
Motiv -, nicht unterstützt, sondern unterläuft. Hier zeigt sich die
Handschrift, der Ausdruck, die Persönlichkeit des Malers. Dieses Moment
einer modernen Malerei zwischen Abstraktion und Naturalismus ist so
zentral, dass sich nur wenige Malstile ihm entziehen können. Die
Eigenständigkeit der Pinselstriche wird in der Kunstgeschichte seit der
Moderne immer wieder zum Thema der Malerei. Diskrepanz und Durchdringung
von Pinselstrich-Textur und dargestelltem Motiv geraten zu einem Symbol
für die Malerei schlechthin. Dies zeigt sich daran, dass viele
zeitgenössische Künstler dieses Moment persiflieren, wie z.B. Richard
Artschwager, der besonders rauhe Bildgründe wählt, deren Struktur ihm
das Malen fast unmöglich macht. Auch der ausufernde Markt der
Hobby-Acrylmalerei variiert dieses Motiv in unzähligen Bildvorschlägen
mit Pinsel und Malspachtel in seinen Do-it-yourself-Büchern. Eshkols
Wandbehänge lassen sich ebenfalls als ein Kommentar zu diesem Basismotiv
der modernen Malerei lesen. Was der Pinselstrich bei Van Gogh ist, ist
bei Noa Eshkol das Stoffmuster.
Die Künstlerin Sharon Lockhart
war die erste, die Eshkols Tänze zusammen mit den Wandbehängen in
Jerusalem (2011) und Wien (2012) aufführen ließ. Diese Präsentation
zeigt die Kunst Eshkols auf der Höhe der aktuellen Kunstdiskussion. In
den Rüsselsheimer Opelvillen sind Wandbehänge von Noa Eshkol noch bis
zum 23. März zu besichtigen. Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen.
Die Noa Eshkol Chamber Dance Group ist vom 21. bis 23. März 2014 zu
Gast in den Opelvillen und gibt zwei Vorstellungen.