Lügner
Ich bin der Welt abhanden gekommen. Karl May – Live-Hörspiel mit Oliver Augst / John Birke / Marcel Daemgen, 9./10./11.12.2011, Atelierhaus basis, Frankfurt am Main
Oliver Augst, John Birke, Marcel Daemgen sitzen in einer Reihe. Vor sich Mikrofone, Laptops und Plattenspieler. Im Atelierhaus basis gibt es ein Tonstudio aus Landesbildstelle-Zeiten. Ein "Live-Hörspiel" wird hier an drei Abenden öffentlich aufgenommen. Es gibt digitale Tonkonserven, Schallplatten, Musikinstrumente, Verabredungen per Skript. Was aber exakt wann stattfindet, wird spontan entschieden. Motor ist der Text Birkes. Der Text eint O-Töne Karl Mays, mit Texten über ihn, samt eigenen Texten Birkes. Live und Konserve mischen sich, Stimmen der Sprecher überlagern sich ebenso wie die Sichtweisen auf Karl May, der sich seine Welt erfand, weil er mit der wirklichen Welt nicht zurechtkam. Was ist Lüge, was wahr? Hat Karl May ein "Ave Maria" komponiert, damit Winnetou zum Christ werden kann?
Spielt es eine Rolle, was wahr ist, was Lüge? "Schriftsteller sind im
Grunde genommen nichts als professionelle Lügner, und gute Lügner
wissen, wie man Fakten und Fiktion so miteinander verbindet, dass das
Resultat plausibel klingt." (Karin Slaughter, Anm. 1) Karl May tritt uns
als Prototyp des Künstlers entgegen: Er erfindet sich eine bessere
Welt, weil ihm die wirkliche nicht liegt. So hier interpretiert von
Künstlern. Das Künstler-Trio geht aber nicht so weit, selber Lüge und
Wahrheit zu mixen. Tatsächlich nämlich hat Karl May das Ave Maria
komponiert. Seine christlichen Eskapaden wurden von späteren Lektoren
gestrichen, Winnetou für moderne Jugendliche bereinigt. Die
dokumentarische Ebene bleibt Schwerpunkt, auch wenn Birke in den von ihm
zu Karl May geschriebenen Texten darüber hinaus geht. Das Hörspiel
informiert umfangreich wie eine Dokumentation über viele Facetten Karl
Mays sowie die Karl-May-Rezeption. Allein das macht das Hörspiel
hörenswert. Dazu kommen die Lieder – vorgetragen von Oliver Augst und
John Birke. Durch ihre gefühlvolle persönliche Vortragsweise holen sie
das Publikum aus Karl Mays Welt in das Jetzt.
Karl Mays
komplizierte Lebensgeschichte wird erzählt, und das Publikum geht mit
wie bei einem Winnetou-Film. Später äußern einige spontan persönliche
Erinnerungen an ihre Kindheit (was in dem Setting des intimen Tonstudios
ohne Barriere zwischen Publikum und Künstlern leicht möglich ist). Karl
Mays eigene Identität verschwand zwischen seinen Rollen, seinen Lügen
und Wahrheiten, fiel zwischen Fiktion und Wirklichkeit.
(1) Karin Slaughter: Verstummt, München 2010, S. 505
Text:
John Birke unter Einbeziehung von Originaltexten
Lieder:
Gustav Mahler / Friedrich Rückert ("Ich bin der Welt abhanden gekommen"), Thomas Desi / John Birke (3 Pop-Songs, komponiert und geschrieben für diesen Anlass), Karl May ("Ave Maria", Männerchor-Komposition)
Oliver Augst: Stimme, Gesang, Mundharmonika, Plattenspieler
John Birke: Stimme, Gesang, digitale Geräusche
Marcel Daemgen: Musik, Sampling, Electronics
Tontechnik: Jonas Schändlinger
Eine Produktion von textXTND in Kooperation mit basis.
Links
- Homepage von Oliver Augst und Marcel Daemgen: www.textxtnd.de
- Zu John Birke: http://de.wikipedia.org/wiki/John_Birke